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Beitrag von Lothar Bisky auf dem Symposium der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Ehren von Dr. Bernd Ihme am 24. Januar 2013
Am 8./9. und am 16./17. Dezember 1989 fand ein außerordentlicher Parteitag in Berlin statt – der Parteitag der SED/PDS.

Am 8./9. und am 16./17. Dezember 1989 fand ein außerordentlicher Parteitag in Berlin statt – der Parteitag der SED/PDS. Ich leitete die vielköpfige Redaktionsgruppe, die den Text der politischen Entschließung erarbeiten sollte. 

Ich war zum ersten Mal auf einem Parteitag, unerfahren und nervös. Schneller, als ich dachte –aber weit nach Mitternacht – wurde ich aufgerufen, raffte die Blätter zusammen, ging ans Mikrofon und quälte mich mit monotoner Stimme durch den Text. Nach einer heftigen Debatte über unseren Entwurf wurde beschlossen, dass jeder Bezirk noch einmal je zwei Delegierte in die Redaktionskommission entsenden sollte. Damit war sie vollends arbeitsunfähig. Alle redeten wild durcheinander. Als dann eine Lehrerin auf den Lehrplan für die achten Klassen zu sprechen kam, bat ich Markus Wolf, der neben mir saß, die Debatte zu leiten, und formulierte zwei, drei Sätze um. Ich wurde wieder aufs Podium gerufen, sprach den nahezu gleichen Text laut und deutlich und mit fester Stimme ins Mikrophon und war überrascht, dass ich diesmal fast nach jedem Satz Beifall erntete. Nachdem ich geendet hatte, zog ich meine rote Delegiertenkarte aus der Tasche und hob sie in die Höhe. Die Delegierten folgten meinem Beispiel und applaudierten. Als der Versammlungsleiter die Gegenstimmen und die Stimmenthaltungen aufrief, waren es verschwindend wenige. 

Ich habe das erwähnt, weil die zahlreichen programmatischen Debatten in meiner Partei gänzlich. anders verliefen. 

Sie dauerten lange. Sie wurden zäh, ernst und ausdauernd geführt als ginge es um Leben und Tod. Nach vierzig Jahren Schweigen folgte eine Phase der Diskussionsbesessenheit. Natürlich gab es auch einen großen Diskussionsbedarf. 

Aus der Regierungspartei mit 2,3 Millionen Mitgliedern wurde in kürzester Frist eine kleine Oppositionspartei, die nur eine Chance hatte, wenn sie in der Lage war, sich programmatisch völlig neu zu orientieren und diese Orientierung wirksam zu vertreten.

Die Programmkommission, an deren Arbeit sich im Laufe der Jahre nicht wenige beteiligten, hatte immer ein Gesicht und eine Adresse: Bernd Ihme. Die Parteivorstände wurden alle zwei Jahre neu gewählt. Zum Glück blieb Bernd Ihme. Er gab der programmatischen Arbeit Kontinuität. Bei ihm liefen die Fäden zusammen. 

Es ist ein Glücksfall für die Linke, dass Bernd Ihme in Augenblicken, wenn die Vorstände verrückt spielten, sein ganzes Gewicht in die Waagschale warf und unbeirrt die programmatische Arbeit fortsetzte, die großen Gedanken und auch manch unsinnige Papiere aufgriff, einordnete und auswertete, speicherte oder in den Papierkorb warf, so sie dann auch hingehörten. 

In den Zeiten der grimmigen ideologischen Gemütlichkeit, der verbissenen Ausgrenzung, organisierte er Diskussionen in vielen Orten in Ost und West und half damit, das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Mitgliedschaft zu stärken und zu entwickeln. 

Ausblick 

Ich verstehe die programmatische Arbeit als Prozess, in dem mit widersprüchlichen gesellschaftlichen Entwicklungen auch ständig neue Fragen auftauchen und beantwortet werden müssen. 

Für die Partei rankt sich die programmatische Debatte um die Verbindung der Antworten auf die Kernfragen: 

Woher kommen wir? 
Wo stehen wir? 
Wohin wollen wir? 

Die Linke verortet sich politisch als links neben der Sozialdemokratie. Ist sie die sozialistische und/oder sozialdemokratische Partei links neben der Sozialdemokratie? Meines Erachtens beides. Die Herkunft aus der Geschichte der Arbeiterbewegung ist evident. Die plurale Linke hat auch künftig noch viel zu tun, um ihre Geschichte aus verschiedenen Quellen aufzuarbeiten, sich kritisch damit auseinanderzusetzen. 

Das dauert. Die unumkehrbare Lossagung vom Stalinismus brauchte länger als einen Tag, ist aber inzwischen Geschichte. 

Die Traditionen der Linken wurzeln in der Industriegesellschaft: Mit der Informationsgesellschaft hat die Partei Probleme. Die neuen sozialen Strukturen werden zu zögerlich programmatisch bearbeitet. Das Informationsproletariat hat zwar Gemeinsamkeiten mit dem Industrieproletariat, aber doch seine Besonderheiten, wie es natürlich in der Informationsgesellschaft noch Industriearbeiterschaft gibt, jedoch haben sich die Proportionen deutlich verschoben. 

Nach wie vor gilt für mich: Links ist internationalistisch oder nicht links. Dazu gibt es allerdings seit Jahrzehnten immer wieder auch stark auf die Nation abhebende „nationalbolschewistische" Strömungen. 

Zurecht hat die Linke sich EU-kritisch positioniert, innerhalb dieser Haltung aber gibt es durchaus sehr unterschiedliche Einstellungen zur EU: eine positive, EU-bejahende und eine die EU im Wesentlichen verneinende Haltung. Letztere finde ich problematisch, denn die Globalisierung ist weit fortgeschritten. Schon im Kommunistischen Manifest wurde herausgearbeitet, dass mit der Großen Industrie die nationale Beschränktheit und Borniertheit beseitigt wird und an ihre Stelle eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander tritt.

Wir erleben in Afghanistan und in Mali, dass die Kriegsgefahren nicht gebannt, sondern auch noch im 21. Jahrhundert stets präsent bleiben. Deshalb sollte die Linke die Friedensfrage auch künftig als eine ihrer wichtigsten Fragen ansehen und eine differenzierte linke Position zum Cyber-War entwickeln. 

Aber natürlich bleibt die Linke vor allem die Partei der sozialen Frage, die sich im 21. Jahrhundert neu darstellt. Die Bekämpfung von Armut und Hunger ist aktuell. Die prekären Arbeitsplätze betreffen Millionen Menschen auch in Deutschland. Die Zeitfrage und Zeitsouveränität, die Gleichstellung und nicht zuletzt die Bildung müssen programmatisch stärker gewichtet werden, wie auch die Kultur in der Mediengesellschaft. 

Sicherlich haben wir Linken manches zu theoretisch, zu wenig allgemeinverständlich, zu abstrakt diskutiert. Die Diskussionsfreudigkeit, auch die Neigung zu theoretischen und konzeptionellen Debatten sehe ich allerdings als Stärke, nicht als Nachteil der Linken in Deutschland und Europa an. Pflegen wir diese Stärke!