Andreas Dresen - Trauerrede in der Volksbühne
Für Lothar Bisky, Volksbühne, 14.9.2013. Draußen sind die Plakate bunt. Sie künden von großen Zielen. Die Männer und Frauen auf ihnen lächeln und blicken optimistisch in die Zukunft. Links, Rechts, Mitte, Schwarz, Gelb, Rot, Grün. Sie wissen, was zu tun ist. Wie schon so oft.
Es gab Zeiten, da konnte ich auch dich auf diesen Plakaten sehen, lieber Lothar. Jetzt aber ist dein Bild Schwarzweiß und ich kann nicht glauben, dass es dich nicht mehr gibt. Denn du hast mir gezeigt, was es heißt, aufrichtig zu sein. Sanft, freundlich und trotzdem bestimmt.
Ende September 89. Eine aufregende Zeit. Angespannt. Nicht nur an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, aber natürlich auch dort. Deine Studenten wollten drehen, auch ich, wir wollten dokumentieren, was im Land geschieht, aber immer wieder gab es Ermahnungen, Restriktionen von Seiten der politschen Führung der DDR.
Du, lieber Lothar, hattest davon die Nase voll. Aber du wusstest auch, es könnte gefährlich werden, vielleicht würde man sogar die Schule schließen. Es gab eine Studentenvollversammlung und du stelltest die Vertrauensfrage. Ohne den Rückhalt der Studenten könntest du die Schule nicht durch so bewegte Zeiten führen und würdest sofort zurücktreten.
Eine Vertrauensfrage. Rücktritt. In der DDR!
Du warst als Rektor eingesetzt worden, eine demokratische Legitimierung in dieser Form war damals keineswegs vorgesehen.
Dann bist du einfach aus dem Raum gegangen und wir haben tatsächlich abgestimmt. Es gab keine Gegenstimme. Wir alle wollten mit dir als Rektor unbedingt weiter machen.
Als du wieder herein gekommen bist und unser Votum angenommen hast, standen mir die Tränen in den Augen. Zum ersten mal hatte ich die Kraft wahrer Demokratie erlebt, echter, wirklicher Legitimation.
Welcher Rektor, welcher Leiter in der DDR konnte von sich behaupten, dass er tatsächlich von denen gewählt wurde, für die er im Amt gewesen ist?
Dieser Moment begleitet mich bis heute. Damals machte er uns nahezu unverwundbar, obwohl du ja nicht ahnen konntest, dass du wenige Wochen später vor einer Millionen Menschen auf dem Alexanderplatz sprechen würdest.
In undemokratischen Zeiten hattest du dich bereits als wahrer Demokrat erwiesen.
Drei Jahre davor, im Spätsommer 86, waren wir uns zum ersten mal begegnet. Du als neuer Rektor an der Filmhochschule, ich als gerade immatrikulierter Regiestudent. Du hattest meist einen Jeansanzug oder eine Lederjacke an. Ungewöhnlich für eine DDR-Hochschule. Es war die Ära von Gorbatschow, wir waren voll von seinen Reformideen und wollten Filme machen, die die Realität unseres Landes spiegeln sollten. Viele Kommilitonen der älteren Semester hatten zu diesem Zeitpunkt bereits resigniert, zu oft schon hatten sie die Erfahrung von politischer Zensur machen müssen. Auch an der Hochschule. Aber du hast uns ermutigt. Und dann haben wir einfach damit angefangen.
Weißt du noch? Ich hatte einen kleinen, eigentlich eher harmlosen Dokumentarfilm gemacht, der von einem Jungen erzählte, der seinen Grundwehrdienst bei der NVA antreten musste. Wir haben ihn mit der Kamera in den ersten Wochen begleitet um zu zeigen, wie es einem dabei so ergeht. Ohne Beschönigung, so wie wir selbst es auch erlebt hatten: Ein Training zur Vereidigung also, wo der Schwur immer wieder und vor allem laut nachgesprochen werden musste, eine Weihnachtsfeier bei Club-Cola, bei der ein junger Leutnant sich abmühte, seine traurigen Soldaten zu motivieren und ähnliches.
Es war ein Film von vielen, meine Kommilitonen hatten sich in ihren Übungen zum Beispiel mit einem Punk beschäftigt oder mit zwei Freundinnen, von denen eine bei der FDJ und die andere in der jungen Gemeinde war. Alltag eben, aber genau der kam ja in Film und Fernsehen der DDR so selten vor. Entsprechend hoch schlugen die Wogen, als die kleinen Filme aufgeführt wurden. Bei mir war sogar von „Wehrkraftzersetzung“ die Rede, die militärische Hauptverwaltung schaltete sich ein, später gar das ZK der SED. Ich habe davon wenig mitbekommen, denn all diese Kämpfe hast ja du durchgestanden und unsere Filme durften weiter laufen.
Bis zu jenem Tag im Januar 89, da wurde ich zu dir ins Rektorenzimmer bestellt. Wir saßen uns gegenüber, du wirktest müde und ein wenig niedergeschlagen. Der Film könne jetzt erst einmal eine Weile nicht mehr gezeigt werden, der Druck von außen wäre zu groß. Als ich schon gehen wollte und irgendwie den Kopf hängen ließ, hast du ganz fest meine Hand genommen und gesagt, ich soll unbedingt so weitermachen, du fändest es richtig und ermutigend, wenn die Filme deiner Studenten Aufsehen bis in die höchsten Kreise des Politbüros erregen.
Ein ermutigendes Verbot also, wo hat es sowas schon gegeben?
Es ist leicht, die Klappe aufzureißen, wenn ein schützendes, breites Kreuz vor einem steht. Nein Lothar, wir Studenten waren nicht mutig, wir haben nur unseren vorhandenen Spielraum genutzt. Mutig warst du, der du das alles vertreten und zugelassen hast.
Die Mauer fiel, die politische Führung von Partei und Staat auch. Jetzt waren die kritischen Geister gefragt, diejenigen, die vor dem Umbruch schon Haltung gezeigt hatten. Und du, lieber Lothar, fühltest die Pflicht auf deinen Schultern: Lehne ich ab, so leidet die Glaubwürdigkeit meiner früheren Kritik. Gehe ich aber in die Politik, kann ich nicht mehr Rektor sein und enttäusche möglicherweise euch Studenten. So sagtest du damals und das war dein Dilemma. Und deswegen habe ich dich ausgerechnet in den Stunden der politischen, gesellschaftlichen Euphorie ziemlich traurig gesehen.
Du hast die Hochschule verlassen und es begann deine Reise in die „Welt der belegten Brötchen“, die es seitdem immer bei allen politischen Empfängen und Besprechungen gab, wie du später mal geklagt hast. Und mit dem Brötchenfrust wurde die Zeit knapper, wurdest du zu einer öffentlichen Person. Wir haben uns seltener getroffen, dafür tauchtest du immer öfter in den Nachrichten oder bei Talkrunden auf. Du hast dort gesessen, zwischen all den politischen Schwergewichten dieser Republik, die dich angriffen, als Ewiggestrigen bezeichneten oder dir über den Mund zu fahren versuchten und du wirktest ein wenig wie aus einer anderen Welt. Der dort saß, war doch eigentlich gar kein Politiker, das war doch Lothar, der Junge vom Land, den man nun in einen Anzug gesteckt hatte, der aber doch am liebsten Kartoffelsuppe aß, der bescheiden und freundlich war, mit einem natürlichen Sinn für Gerechtigkeit.
Manchmal, wenn du auf meinem Fernseher gerade die Politikerrolle spieltest, sah ich dich auf einmal wieder unter der Dusche unserer Turnhalle an der Filmhochschule stehen, für einen kleinen Eröffnungsbeitrag zum damaligen Studentenfestival. Wir stellten eine Szene aus ALL THAT JAZZ von Bob Fosse nach, ich musste dich nicht lange bitten. Und wie der Regisseur aus diesem Film standest du unter dem rauschenden Wasser, qualmtest dabei deine geliebte Karo, warfst anschließend eine Aspirin ein, um deinem Spiegelbild schließlich zuzurufen: „It’s showtime, folks!“
Oder unsere Reise nach Paris. Listig hattest du dir eine Veranstaltung einfallen lassen: „Tage der Hochschule für Film und Fernsehen im Kulturzentrum der DDR“ Dort liefen unsere Filme. Wenige kamen - aber viele waren gefahren. Du hattest es tatsächlich irgendwie fertig gebracht, dass 10 Studenten nach Paris reisen durften. Wer von der Welt erzählen will, muss die Welt kennen, das war deine Überzeugung. Und dann hast du uns begeistert die ganze Stadt gezeigt, auch die Rotlichtviertel. Paris im sonnigen Mai 89. Eine süße, schmerzhaft schöne Erfahrung. Und alle sind wieder mit zurück gekommen.
Und jetzt? Was machtest du plötzlich in diesen Elefantenrunden? Es schien, als wäre diese Welt gar nicht die deine, als wäre da eine riesige Kluft zwischen dir und diesen anderen Leuten mit den eingeübten Gesten und dem so sicheren Auftreten. Es wirkte, als hättest du dich dorthin nur verirrt, mit deinem verlegenen Lachen, deiner graden Einfachheit.
Der Tiefpunkt im Herbst 2005. Die Linkspartei schlägt dich als Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages vor. Die Wahl ist eigentlich nur eine Formsache, aber auch nach 3 Wahlgängen erhältst du nicht die erforderliche Mehrheit. Wenige Wochen später erfolgt ein vierter Wahlgang, wieder klappt es nicht.
Es ist demütigend, bitter und ich sitze vor dem Fernseher und kann es nicht fassen.
Sie strafen dich ab. Ja, du kommst aus dem Osten. Ja, du bist links. Und deshalb weiß man ja nie...
In diesem Augenblick würde ich am liebsten dort vor den Bundestag ziehen und den Ignoranten erzählen, wer du bist, was du eigentlich geleistet hast.
Es sind die stillen, bescheidenen Menschen, die so schnell verkannt werden. Weil sie nicht mit großer Geste ihre Leistung vor anderen ausbreiten. Aber das scheint eine unzeitgemäße Haltung geworden zu sein.
Dass du in die Politik gegangen bist, begriff ich, lieber Lothar, dass du dort geblieben bist nicht. Aber auch das hing wohl mit deinem aufrechten Charakter zusammen: Verlässlich wolltest du sein, auf keiner konjunkturellen Welle reiten. So vergeht Zeit, so vergeht Leben. Und irgendwann sind die Absprungbretter besetzt oder abgebaut. Sie waren es wohl auch für dich. Und du hattest es nicht verdient, die elenden politischen Grabenkämpfe in der eigenen Partei erleben zu müssen und dabei aufgerieben zu werden.
Du hast aus- und durchgehalten, mit ganzem Herzen geackert. Und über 20 Jahre Politgaleere vermochten dich nicht zu verderben. Bis zuletzt bist du der aufrechte, integre Mensch geblieben, als den wir dich als Studenten immer verehrt und geliebt hatten.
Ach, lieber Lothar. Wie sehr hätte ich dir noch ein paar gute Jahre gewünscht. Ohne Politik. Mit den Menschen, die du liebst, guten Büchern, Filmen und Kartoffelsuppe.
Andreas Dresen